„Umfassendes Gewaltsystem“ in Wiener Kinder- und Jugendpsychiatrie
Titelbild: Wien – Steinhof (Haeferl; Lizenz: CC BY-SA 3.0 AT)
Neue Studie im Auftrag des Wiener Krankenanstaltenverbundes leistet Beitrag zur Aufarbeitung von institutioneller Unterbringung von Kindern und Jugendlichen in der jüngsten Geschichte.
Vergangenen Montag wurde die Studie „Kinder und Jugendliche mit Behinderung in der Wiener Psychiatrie von 1945 bis 1989“ der Öffentlichkeit präsentiert. In einem zweijährigen Forschungsprozess untersuchte das IRKS (Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie) den Pavillon 15 der Anstalt „Am Steinhof“ (ab 1963 Psychiatrisches Krankenhaus „Baumgartner Höhe“) und die „Rett-Klinik“ am Rosenhügel. Als Quellen wurden Krankenakten, Gerichtsakten und Personalakten herangezogen. Zudem wurden mehr als 100 Interviews mit ZeitzeugInnen – Personen, die selbst in einer der Einrichtungen untergebracht waren, aber auch Personal – sowie ExpertInnen geführt. Ziel war die Rekonstruktion von medizinischer Behandlungspraxis und die Erforschung der pflegerischen und psychosozialen Betreuungssituation in beiden Einrichtungen.
„Umfassendes Gewaltsystem“ und Entmenschlichung
Die Studie belegt das „umfassende Gewaltsystem“ im Forschungszeitraum und macht die „völlig inadäquaten Versorgungs- und Betreuungsverhältnisse“ sichtbar: Im Pavillon 15, der in der NS-Zeit Teil der Tötungsanstalt „Am Spiegelgrund“ war, wurde nach seiner formellen Auflösung das Personal übernommen – auch eine ideologische „Reorientiation“ fand nicht statt.
Medikamentöse Ruhigstellung, Missachtung, Gewalt, Erniedrigungen gehörten zum Alltag in der Einrichtung. In den Räumlichkeiten wurden aus Sicherheitsgründen oft Wasserhähne verschlossen, sodass der Durst nur durch Trinken aus den Toiletten gestillt werden konnte, was als „Abartigkeit“ der Behinderungen ausgelegt wurde. Beschäftigungsmöglichkeiten verwehrte man, das Spielzeug bewahrte man außerhalb der Reichweite von Kindern auf. Die durch psychische und physische Gewalt entwickelten Verhaltensweisen galten wiederum als Bestätigung für „Diagnosen“ und Unterbringung in der Einrichtung. Die Studie hebt hervor, „dass die Lebens- und Unterbringungsbedingungen auf Pavillon 15 zweifelsohne großteils hingenommene Realität auf politischer und gesellschaftlicher Ebene – zumindest bis weit in die 1970er Jahre hinein – waren. Sie waren aber weit entfernt vom geltenden fachlichen Standard dieser Zeit und dies war allgemein bewusst und bekannt, und zwar spätestens seit Anfang der 1950er Jahre.“
Alternative „Rett-Klinik“? – Sexualität als „Problem“
Die 1956 als Alternative zur Verwahrung von Kindern und Jugendlichen in „Heil- und Pflegeanstalten“ und Altersheimen gegründete „Rett-Klinik“ ist im Kontext des ab den 1960er Jahren einsetzten Wandels, der sich an Konzepten von Förderung und Rehabilitation orientierte, ein Vorreiter. Trotz dieses „vergleichslosen breiten Spektrum an medizinisch-therapeutischen Angeboten“ bringen auch in dieser Einrichtung Krankenakten die umfangreichen Ruhigstellungen und die Verordnung von mehreren Medikamenten gleichzeitig, wie z.B. Antiepileptika und sedierende Mittel um gegen „störendes Verhalten“ vorzugehen, an den Tag. Auch das Präparat Epiphysan, das triebdämpfend wirkt und sexuelles Empfinden unterdrückt, wurde über Jahrzehnte eingesetzt. Zahlreiche Zwangssterilisationen und Schwangerschaftsabbrüche wurden in der „Rett-Klinik“ durchgeführt. Oft geschahen Operationen unter dem Vorwand einer angeblich notwendigen Blinddarmoperation. Sterilisiert wurden nur Frauen und Mädchen, da diese als besonders von Gewalt bedroht galten und sie sich durch „ausgeprägte Distanzlosigkeit“ und „mangelnde Kritikfähigkeit“ auszeichnen würden, womit sie sich Tätern geradezu anbieten würden. Die Studie fasst zusammen: „War die „Rett-Klinik“ in den 1950er Jahren Vorreiter eines paradigmatischen Wandels in der österreichischen Behindertenhilfe, so wurde sie ab Mitte/Ende der 1970er Jahre, jedenfalls aber in den 1980er Jahren selbst von einem neuen Wandel überholt. Rett verwehrte sich gegen Forderungen der Selbstbestimmung und gesellschaftlichen Teilhabe von Menschen mit Behinderungen und hielt an seinem stark paternalistisch geprägten Modell der segregierten Betreuung und Förderung fest.“
Weitere Forschung notwendig
Die aktuelle Studie „Kinder und Jugendliche mit Behinderung in der Wiener Psychiatrie von 1945 bis 1989“ leistet einen wichtigen Beitrag in der Aufarbeitung der jüngsten Psychiatriegeschichte. Aus dieser wissenschaftlichen Auseinandersetzung ergeben sich weitere Themenfelder und Fragestellungen, die es zur erforschen gilt. Die Geschichte vieler anderen Einrichtungen, wie etwa die der Christian-Doppler-Klinik (Salzburg) während und nach der NS-Zeit, wurden noch nicht ausreichend wissenschaftlich erschlossen. Doch auch heute noch gehört das Thema der strukturellen und personellen Gewalt in Pflegeeinrichtungen nicht der Vergangenheit an, wie eine Tagung im vergangenen Jahr in Salzburg deutlich machte.
Der Artikel konnte nur einen kleinen Einblick in die Ergebnisse der Studie ermöglichen. Bei Interesse gibt es die gesamte Studie gratis zum herunterladen: www.irks.at
Opfer sollen Entschädigung erhalten
Laut Stadträtin Sandra Frauenberger will die Stadt Wien die Opfer entschädigen. Dafür wurde eine eigene Hotline mit der Nummer 40409-60030 eingerichtet.